Christina Tsialis

Der Fluss

und seine Reise von der Quelle bis ins Meer – eBook Ausschnitt

Der Fluss und seine Reise von der Quelle bis ins Meer

Damals lebten wir vier in einem durchsichtigen Ball. Wir waren einander sehr nahe und erfreuten uns an unserem Haus, das keine Wände und Ecken hatte, da war bloß ein kugelförmiges Fenster. Wir schwebten sanft am Himmel, in hellblaues Licht gehüllt, das uns in den Schlaf wiegte. Unter uns waren eine Scheibe und ein paar reglose Menschen zu sehen. In all der Zeit, in der wir dort wohnten, sahen wir immer dasselbe und schenkten ihm deshalb keine Beachtung mehr.

Die lichtblaue Kugel

Wir erinnern uns alle noch an diesen Tag. Am Himmel erschien plötzlich ein dunkler Punkt, der rasch größer wurde und auf uns zukam. In unserem Haus erlosch das hellblaue Licht. Unsere Körper färbten sich von rotem, brodelndem Wasser, die Kugel bekam einen Riss und zerbrach. Das Wasser strömte hinaus und riss uns mit sich. Wir fielen auf die Scheibe.

Die Verbannung

Unsere Körper schmerzten und das Wasser verbrühte uns die Füße. Die Menschen, auf die wir so lange aus der Höhe herabgesehen hatten, standen jetzt vor uns, hinter uns und neben uns.

Auch die Scheibe färbte sich rot. Vage sahen wir nun in der Dunkelheit die reglosen Menschen, wie sie anfingen, sich zu bewegen und auf uns zuzukommen. Sie zogen uns Gewänder an und bedeckten unsere Köpfe. Am Himmel schwebte unsere Kugel, unser Haus fort.

Die reglosen Menschen II

Die Zeit verging, das Rot verblich, die Menschen um uns zerstreuten sich und wir vier trennten uns voneinander. Meine Mutter zog nach Norden, mein Vater nach Süden, mein Bruder nach Westen und ich zog in Richtung Winter.

Weiß der Himmel und die Erde. Stille und Unendlichkeit. Meine müden Beine brachten mich zu einem verlassenen Haus. Es hatte kein Dach und keine Fensterscheiben. Ich trat hinein und blieb lange darin.

Winterlandschaft II

In einem der Zimmer fand ich eines Morgens einen Funken, der in der Luft schwebte. Ich lief ihm hinterher, bekam ihn zu fassen und fühlte gleich, wie seine Wärme mich umfing. Mein Gott, wie wunderbar! Ich begann, mit ihm zu fliegen, nahm seine Farbe an und tanzte durch das Fenster hinaus.

Ich weitete mich aus, stieg immer höher in den Himmel hinauf und sah, wie die Bäume unter mir meine Feuerfunken fingen und wie der Schnee schmolz. Ich spürte, wie mein Körper aus den Flammen emportauchte, groß und rund wurde, meine Haare gelöst um mich flatterten, meine Augen und mein Mund sich neu formten.

Das Feuer

Ich reiste mit dem Feuer in mir und sah hinunter auf die Erde und die Menschen. Ich sah ihre Jahreszeiten, ich sah ihre Augen und wurde eine der ihren.

Und an einem See hielt ich wieder inne. In einem Zaubergarten, im Licht des Mondes und wartete.

Der geheime Garten

Die Zeit verging. Der Mond verblasste, verschwand bald und nahm meinen Garten mit sich. Ich stand auf dem Wasser des Sees, das unter meinen Füßen gefroren war. Die Flamme in mir wurde ebenso kleiner wie der Mond und erlosch langsam.

Ich sah meinen Körper im See und fragte das Wasser: „Wo ist die Erde und wo sind die Menschen, mit denen ich eins geworden bin? Und seine Antwort war der körperlose Kopf, den ich in meinen Händen hielt.

Der körperlose Kopf

Dunkelheit und Kälte und unendlicher Himmel.

Verzweiflung I

Verzweiflung.

Verzweiflung II

Ich öffnete nach langer Zeit meine Augen. Der Wind hatte mich vom See weit weggebracht, an einen neuen Ort. Über mir zogen eilig orangefarbene Wolken davon und vor mir rauschte kräftig ein Fluss.

Der Wind hob mich wieder in die Höhe, nahm mich mit sich in die Wolken hinauf und zerrte mich über den Fluss. Wind und Wasser kämpften darum, wer mich fangen würde. Ich fürchtete mich. In Todesangst ergriff ich eine Säule, die aus der Tiefe des Flusses ragte. Ich drückte mich fest an sie und versteckte mein Gesicht. Langsam hörte ich, wie sich der Wind legte und sich der Fluss beruhigte. Ich befand mich in den Händen eines Mannes.

Ich setzte meine Reise auf Erden mit ihm fort. Er zeigte mir Orte und Gegenden, die ich noch nicht kannte und vor denen ich mich zuvor gefürchtet hatte. Wir flogen von Land zu Land wie Blätter in der Luft, er voran und ich hinterher, an seiner geliebten Hand.

Die Stadt

Die Erde hielt mich fest umklammert, sie schenkte mir eine neue Familie und wurde für mich zu einem Zimmer mit Wänden und Ecken. Und an den Rand des Zimmers gedrängt, erblickte ich vor mir drei farblose Kugeln, die den Raum ausfüllten. Ich spürte ihre Masse auf mir und meinen Atem schwer werden..

Das enge Zimmer

Christina Tsialis, Tochter einer dänischen Architektin und eines griechischen Agrarwissenschaftlers, wurde 1965 in Ermoupoli auf Syros geboren und verbrachte ihre Kindheit und ersten Jugendjahre auf der Insel und Volos, die späteren in Saloniki.

1983 nimmt sie ihr Studium der neu- und altgriechischen Philologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Saloniki auf. Daneben befasst sie sich mit dem Zeichnen (überwiegend mit chinesischer Tusche) und dem Schreiben von Kurzgeschichten. 1987, vor ihrem Abschluss aus Philologie (1990) inskribiert sie an der Königlichen Akademie der schönen Künste in Kopenhagen, Abteilung für Architektur („Visuelle Kommunikation“), um dort regulär Zeichnen und Aquarellmalerei zu studieren.

Nach zwei Studienjahren in Dänemark (1987-89) verschlägt die Liebe sie nach Wien, in die Stadt, in der zu leben sie sich von Kindesbeinen an erträumt hatte. Ihre Bewunderung für den phantastischen Realismus führt sie sehr bald zu Michael Fuchs, der sie während eines zweijährigen Intensivunterrichts in die Geheimnisse der Malereitechnik der Renaissance und in die naturalistische Darstellung von Mensch und Natur einweiht.

1992, wird sie in die Klasse eines der fünf Vertreter des Phantastischen Realismus’, Wolfgang Hutters, an der Universität für Angewandte Kunst in Wien aufgenommen.

1996, nach der Geburt ihres zweiten Kindes, entschließt sie sich, ihr Studium auszusetzen, fährt aber mit dem Malen und Schreiben in ihrem Atelier fort und ist gleichzeitig als Lektorin für die neugriechische Sprache an der Universität Wien tätig.

Eins ihrer Werke, an dem sie fast zwanzig Jahre mehr oder weniger konsequent gearbeitet hat und mit dem sie ihr Studium an der Angewandten beschlossen hat (2005), ist dieses Buch, eine fantastische Geschichte in Form eines Zyklus’ aus 17 Bildern und 17 Begleittexten, das 2019 seine endgültige Form erhalten hat.

Christina Tsialis beteiligte sich an Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland, sowie an internationalen Kunstmessen und lebt nun mit der jüngsten ihrer drei Töchter mittlerweile 30 Jahre in Wien.

Angaben zu den Bildern

1. Die lichtblaue Kugel, Buntstift auf Papier, 12×17 cm, 2015
2. Die Verbannung oder die zweite Geburt, Buntstift auf Papier, 12×17 cm, 2005
3. Die reglosen Menschen, Buntstift auf Papier, 15×26 cm, 2019
4. Winterlandschaft, Buntstift auf Papier, 40×25 cm, 2003
5. Das Feuer, Buntstift auf Papier, 43×22 cm, 2005
6. Der geheime Garten, Buntstift auf Papier, 25×14 cm, 2005
7. Der körperlose Kopf, Buntstift auf Papier, 11×17 cm, 2005
8. Verzweiflung I, Buntstift auf Papier, 15×26 cm, 2017
9. Verzweiflung II, Buntstift auf Papier, 13×18 cm, 2005
10. Die Säule, Buntstift auf Papier, 25×34 cm,2017
11. Die Stadt, Buntstift auf Papier, 7×17 cm, 2007
12. Die drei Kugeln, Buntstift auf Papier, 16×11 cm, 2005
13. Das Feuerwerk, Buntstift auf Papier, 39×49 cm, 2019
14. Straße im Nebel, Buntstift auf Papier, 13×17 cm, 2005
15. Die Liebenden, Buntstift auf Papier, 15×10 cm, 2005
16. Der Friede, Buntstift auf Papier, 23×13 cm, 2004
17. Die leuchtende Kugel, Buntstift auf Papier, 12×12 cm, 2007