Der Fluss

Als ich 1999 über das Thema meiner Diplomarbeit an der Wiener Universität für Angewandte Kunst nachdachte, hatte ich die Idee, einige meiner bereits vorhandenen Bilder zu einer fantastischen Geschichte zusammenzufügen.

Die ausgewählten Bilder – alle mit langer, auf Sandpapier geschliffener Buntstiftmine gezeichnet – reichten aber für die Geschichte, die mir vorschwebte, nicht aus – meine Arbeit am Institut für Neogräzistik und meine kleinen Kinder beanspruchten damals den größten Teil meiner Aufmerksamkeit – und so begann ich weitere Bilder zu malen, um die Lücken der Erzählung zu füllen.

Ich machte mich mit Begeisterung an die Arbeit und hatte bald das Gefühl, dass mich die früheren Werke zu den neuen inspirierten und mich anregten, ihrer Thematik und Technik zu folgen. Circa sechs Jahre, von 1999 bis 2005, arbeitete ich an den Bildern, um den aus 17 Buntstiftzeichnungen bestehenden Zyklus zu vervollständigen. Er erzählt die fantastische Geschichte einer Frau beginnend in ihrer Kindheit. Sie wird in einer hellblauen Kugel geboren, in der Geborgenheit einer kleinen Familie. Die Kugel aber zerbricht und die Familie löst sich auf. Das Mädchen findet nach langem Umherirren Zuflucht in einem leeren Haus („Winterlandschaft“), wo es bis zu seiner Volljährigkeit allein („Das Feuer“) bleibt. Die junge Frau verlässt dann das Haus mit der Sehnsucht, unter die Menschen zu kommen und ihre Liebesträume zu leben („Der geheime Garten“). Enttäuschungen werfen sie aber noch tiefer in die Isolation („Der körperlose Kopf“). Die Zeit vergeht, das Leben öffnet ihr neue Türen („Die Stadt“) und schenkt ihr eine neue Familie („Das enge Zimmer“) …

Während dieser Zeit fühlte ich meine Liebe für die Bilder mal aufflammen, mal abkühlen, mal nahm ich sie mit Begeisterung in die Hand, mal ließ ich sie lange in einer Schublade liegen. Einige Bilder wie „Die reglosen Menschen“ waren das Resultat eines Kampfes mit den Farben und dem Papier, während andere wie „Der Friede“ und „Der geheime Garten“ auf Anhieb und ohne merkliche Anstrengung entstanden.

Ende 2004, nachdem ich auch die „Leuchtende Kugel“ fertiggestellt hatte, breitete ich alle 17 Bilder auf dem Boden aus, der Reihe nach – die alten zusammen mit den neuen. Doch ich konnte mich nicht über das Ergebnis freuen, es quälte mich das Gefühl, dass etwas fehlte. Es vergingen einige Tage, bis ich herausfand, woran es lag: Mir schien, dass das Bild nach dem Wort verlangte, um sich dem Betrachter vollendet und unmissverständlich zu erschließen. Ich hielt mich kurz danach für eine Woche in einem Kloster auf, und inspiriert von der ungewohnten Isolation begann ich zu schreiben. Die Worte flossen wie von selbst aufs Papier und schnell waren die 17 Begleittexte geschrieben. Jetzt war ich sicher, dass mein Werk vollendet war und ich fühlte eine große Erleichterung. Bald darauf fand ich auch, angeregt durch Spruch von Heraklit, den Titel der Erzählung: „Der Fluss“.

PS.: Wenige Monate nach dem Erwerb meines Diploms (2005) begann ich erneut, einzelne Bilder durch neue zu ersetzen, die sich – wie es mir schien – stimmiger in das Werk einfügten. An neuen Bildern arbeitete ich immer wieder („Die Säule“,2017, „Die reglosen Menschen“,2019, „Das Feuerwerk“,2019.) Im September 2019, nach zwanzig Jahren, ist der Zyklus endgültig vollendet. Der Fluss hat das Meer erreicht.

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